Abirede 2019 - Papa, du nervst!

Lesen Sie hier den Text der Abiturrede unseres Schulleiters, Herrn Grunewald.

 „Papa, Du nervst!“ Dies gibt es auch in der Version: „Mama, Du nervst!“

 

Meine Damen und Herren, liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

wer von Ihnen, kennt das nicht. Kinder beschweren sich darüber, dass ihnen gesagt wird: „Tu das, lass das!“ usw. Je älter sie werden, desto geringer wird der elterliche Einfluss.

Aber wer bestimmt dann, wie sie bzw. wie wir leben sollen? Familie, Freunde vielleicht? Politiker, Wissenschaftler, Demagogen, Ideologen? Wer bestimmt eigentlich, wie wir leben sollen? Ich versuche Ihnen mögliche Antworthilfen zu geben.

Erste Möglichkeit: Ich bin hier geboren, meine Eltern konnte ich mir nicht aussuchen, das politische und gesellschaftliche Wesen ist so wie es ist. Meine Eltern haben mir über Kleidung, Essen, Spielzeuge und Wohnung einen Weg vorgegeben. Im Rahmen meiner Möglichkeiten durfte ich entscheiden, welches Handy ich haben wollte, oder welche Jeans ich anziehen will. Großartig ändern kann ich ohnehin nichts.

Zweite Möglichkeit: Niemand hat das Recht, über mich zu entscheiden. Ich entscheide alles für mich allein, ich unterwerfe mich keinen Zwängen.

Die erste Person lebt in Lethargie, die zweite in Egozentrik. Beides ist problematisch, weil kaum Veränderungen zu erwarten sind.

Dritte Möglichkeit: Ich lebe in einem Land, in dem Mädchen und Jungen zur Schule gehen dürfen; ich sage, zum Glück zur Schule gehen müssen. Das heißt, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, Geschwister, Freunde und Verwandte haben einen großen Einfluss auf mich und geben mir bestenfalls Hilfestellungen. Aber ich habe doch einen Kopf, habe etwas gelernt, kann über die Grenzen, die mir gesteckt werden, hinaussehen, Zusammenhänge erkennen, Folgerungen daraus ziehen und Maßnahmen ergreifen. Ich muss mich nicht mit den Rollen zufriedengeben, in die mich die Verantwortlichen der Gesellschaft und der Religionen stecken wollen. Ich entscheide selbst, was ich annehme.

Meine Damen und Herren, die Generation der ab 1992 geborenen Menschen wird auch die „Generation Z“ genannt. Sie suche Selbstverwirklichung nicht nur im Arbeits- sondern auch im Freizeitleben. Sie haben alle Möglichkeiten, sich in jedwede Richtung zu entwickeln. Bereits der Generation Y wurde nachgesagt, dass man sich nicht um die politischen Belange kümmere. Der Ruf an diese Generation ist unüberhörbar: Wacht doch endlich mal auf, mischt Euch ein, wir brauchen eine aktive Jugend!

Heute sind wir in einer Situation, in der immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene genau das tun, was von Ihnen erwartet wird: Sie mischen sich ein, stellen Fragen und fordern Veränderungen. „Um Himmels willen, so ernst war das auch wieder nicht gemeint mit der Aufforderung, sich einzumischen.“ Diesen Eindruck bekommt man, wenn man einige Reaktionen auf „Fridays for Future“ vernimmt. Die große Demonstration hatten wir am 21.06. in Aachen gerade. Auf einmal werden junge Menschen unbequem, wir müssen mit ihnen diskutieren, müssen Rede und Antwort stehen auf bohrende Fragen. Die sollen doch lieber zur Schule gehen, anstatt freitags zum Demonstrieren die Schule zu schwänzen, äußerte ein jugendlich dynamischer Politiker zu den „Fridays for future“ Demonstrationen.

Junge Menschen gehen zu Hunderttausenden in London auf die Straße, weil sie gemerkt haben, dass die politischen Führer im Lande sie für dumm verkauft haben. Jemand wie der britische Politiker Jacob William Rees-Moog tritt für den Brexit ein, hat aber den Firmensitz seiner Firma längst nach Dublin verlegt. Boris Johnson hat amerikanische, türkische und deutsche Vorfahren, er lernte an Eliteschulen und berichtete als Korrespondent aus Brüssel. Er war und ist auf der internationalen Bühne unterwegs, ist aber Verfechter der Kleinstaaterei. Viele junge Menschen in Großbritannien haben erkannt, dass diese Leute mit Lügen agieren auf Kosten der Generation Z. Diese Leute predigen Nationalismus und Egoismus, die wirtschaftliche und politische Stabilität des Landes scheint ihnen jedoch egal zu sein. Denn wenn das Chaos eintritt, treten sie eben zurück, entziehen sich der Verantwortung, schauen zu, wie andere aufräumen können, wo sie gespielt haben. Sie können es sich leisten, denn wirtschaftlich geht es ihnen nicht schlecht.

Ähnlich muss es doch den jungen Menschen gehen, die sich für eine bessere Klimapolitik einsetzen. Endlich schauen sie hin, nehmen wahr, was eigentlich passiert. Klimawandel? Ist da was? Es gibt Präsidenten, die leugnen den Klimawandel. Sie befreien Industriebetriebe von Umweltauflagen, sie führen ihr Land raus aus Klimaabkommen und heizen gleichzeitig die Migrationsproblematik noch weiter an. Damit meine ich nicht ausschließlich den Präsidenten der USA.

„Umweltpolitik verursacht keine Kosten“, sagte Klaus Töpfer vor 9 Jahren bei einer Veranstaltung im Eurogress in Aachen, bei der ich anwesend war. Klaus Töpfer war Bundesumweltminister von 1987 bis 1994 und später Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen in Nairobi (Kenia). „Umweltpolitik“, sagte er, „entscheidet darüber, wer wann welche Kosten trägt.“ Hier ein paar Beispiele dazu: Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden Abwässer ungefiltert in Flüsse geleitet. Das ist ganz praktisch, weil der jeweilige Industriebetrieb Kosten spart, keine Filter einbauen muss, die teuer sind. Weiter unten kann man aber kein Trinkwasser entnehmen, kann man keine Fische fangen, kann man nicht baden, wird die Natur zerstört. Für die Trinkwassergewinnung müssen also weiter unterhalb des Flusses Filter eingebaut werden, die durch Steuergelder finanziert werden. Kosten, die ohnehin angefallen wären, werden damit nur flussabwärts verlagert.

Oder: Wir leben hier mit Kunststoffverpackungen, weil sie billig sind. Um Kosten zu sparen, wird der Müll nach Afrika verschifft, wo es riesige Müllhalden gibt. Kunststoff verdreckt die Meere, bringt Fische und Vögel um. Eine Kunststofftüte hat es sogar bis in den Mariannengraben geschafft, 11km unter der Meeresoberfläche. Für die Umweltschäden kommen wir nicht auf. Für die toten Fische bezahlen Fischer, die ohnehin schon ein geringes Einkommen haben.

Oder: Wir pusten für unseren Wohlstand genügend umweltschädliche Gase in die Luft. CO2 hat laut den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen den größten Anteil daran, die Erde zu erwärmen. Die Folgekosten dürften bei uns noch relativ verträglich sein, genauso wie in den USA. In anderen Ländern sieht es aber viel dramatischer aus: Ein jetzt schon nachweisbar ansteigender Meeresspiegel sorgt für Tsunamis und Überschwemmungen. Die Wetterextreme mit Stürmen, Dürre und Hitze nehmen zu. Lebensgrundlagen werden entzogen, weil das Getreide auf den Feldern verdorrt. Im letzten Jahr hatten auch wir in Deutschland einen kleinen Vorgeschmack davon.

„Fake news“ sagen einige und leugnen den Zusammenhang dieser Phänomene mit dem hohen CO2-Ausstoß. Selbst wenn es keinen Zusammenhang geben sollte, kann es nicht falsch sein, Symptome wahrzunehmen, ihnen auf den Grund zu gehen und nach den heutigen Erkenntnissen zu handeln. Oder stellen Sie nicht fest, dass die Windschutzscheiben nach einer Fahrt im Sommer von deutlich weniger toten Insekten verschmutzt ist als noch vor wenigen Jahren, dass es weniger Bienen gibt und dass die Winter deutlich wärmer geworden sind?

Wir exportieren unseren Dreck und wälzen die Kosten zur Nutzung der Umwelt auf andere ab. Gleichzeitig befördern wir damit soziale und wirtschaftliche Unterschiede. Wir profitieren, andere zahlen. Und dann wundern wir uns, warum so viele aus Afrika, aus Asien und anderen Gegenden zu uns kommen wollen. Es ist doch unverantwortlich anzunehmen, wir könnten hier immer so weitermachen, während die, die unten am Fluss wohnen, die Kosten übernehmen dürfen. Die wollen auch am Wohlstand teilhaben. Es ist doch klar, dass sie sich irgendwann aufmachen, und flussaufwärts ziehen, wo der Wohlstand wohnt.

Wenn wir aber diese Migrationsbewegung als eine Gefahr für unseren Wohlstand sehen, dann ist das, was gerade in der Welt passiert genau das Gegenteil dessen, was getan würden müsste: Wir bauen Zäune und Mauern, wir erlassen Gesetze und schicken Polizei. Wir befeuern einen neuen Nationalismus und schieben „Ausländer“ konsequent ab. Nein, wir müssen schauen, dass wir selbst die Kreisläufe schließen. Der Kohleabbau hat Ewigkeitskosten zur Folge. Wir nutzen die Kohle zur Verstromung. Aber Generationen später dürfen nach dafür bezahlen, dass wir die Kohle für unseren Wohlstand abgebaut haben.

Wenn wir CO2 produzieren, dürfen wir das Gas nicht einfach wegschließen, sondern müssen selbst beantworten, wie wir das Gas wieder nutzbar machen können. Wenn wir Kunststoffe benutzen, müssen wir selbst sicherstellen, dass der Dreck nicht in die Meere gelangt. Wir müssen selbst für die Folgekosten aufkommen und den Kunststoff dem Wertstoffkreislauf wieder zuführen. Wir können und dürfen nicht darauf warten, dass andere Länder und spätere Generationen für unsere Sauereien aufkommen. Nachhaltigkeit bedeutet nämlich genau das: Bereits jetzt und heute für die Kosten aufzukommen, die unser Handeln erkennbar verursacht. So kann eine gelungene Umweltpolitik helfen, dass wir anderen Menschen nicht die Lebensgrundlage entziehen.

Darauf machen uns die jungen Menschen aufmerksam. Sie sagen uns: „So wollen und so können wir nicht mehr weitermachen. Ihr müsst verantwortungsvoller leben, damit auch wir überleben können.“

Wer sagt uns, wie wir leben sollen? Wir selbst müssen uns vor Augen halten, wie wir auf Dauer leben wollen. Wir müssen die Zeichen der stärkeren Migrationsbewegung wahrnehmen, die Symptome des Klimawandels erkennen. Wir müssen uns davon sagen lassen wollen, wie wir leben sollen. Wir müssen die Signale, die von „Fridays for Future“ ausgehen, ernst nehmen und unseren Wohlstand in Verantwortung für die jungen Menschen von heute überdenken.

Ich gratuliere Euch, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ganz herzlich zum bestandenen Abitur! Lasst die Schulbildung, die ihr heute abschließt, für Euch Auftrag sein, mitzureden, mitzugestalten und mitzumischen. Schaut Euch um, haltet die Augen offen, seid wachsam. Seid mit bei denen, die in Verantwortung vor den Mitmenschen und vor der Natur Gesellschaft gestalten.

Ein persönliches Anliegen möchte ich Euch noch mit auf den Weg geben: Geht diesen polemischen Hetzern nicht auf den Leim, seien sie religiös oder politisch motiviert! Sie malen gerne schwarz und weiß, sie leugnen die Komplexität und verstecken ihre Absichten. Sie wollen Euch meist mit engen Regeln sagen, wie Ihr leben sollt.  Bildung aber befähigt zu differenzieren und zu respektieren. Denkt daran, was Ihr gemeinsam in der Schule gelernt habt. Ihr könnt selbst Verantwortung übernehmen, Ihr könnt selbst denken, Ihr könnt selbst Eure Freiheit gestalten.

Herzlichen Glückwunsch zum Abitur!!!