Corona trifft Theater – Online-Abschlusspräsentation des Literaturkurses (Teil 3)

Was wäre eigentlich gewesen, wenn Romeo nicht zu Julia hätte gehen können, weil so eine kleine Pandemie mit Ausgangssperre dazwischengekommen wäre? Und was wäre dann aus Antigone oder Woyzeck geworden?

Der Literaturkurs verrät es in seiner Online-Abschlusspräsentation! Vorstellungen abgesagt – wir machen trotzdem Theater: Eine szenische Collage aus Texten der Weltliteratur hätte in diesem Jahr auf dem Programm gestanden. Hiervon ausgehend haben die Schüler/innen Monologe ihrer Figuren erarbeitet (und in einer Videokonferenz präsentiert). Sie sollten sich vorstellen, dass ihre Figur unmittelbar vor der eigentlich zu spielenden - und bereits eingeprobten - Szene die Nachricht erhält, wegen einer gefährlichen ansteckenden Krankheit sofort in Quarantäne zu müssen.

Die Monologe der Schüler/innen werden bis zu den Ferien in loser Folge auf der Homepage präsentiert. Ältere Beiträge sind im Nachrichten-Archiv zu finden. (J. Hildebrandt)

 

Monolog 3: Chrysothemis aus Hugo von Hofmannsthals „Elektra“

Darum geht es: Elektra will den Mord an ihrem Vater rächen, indem sie die Täter – ihre Mutter und deren Liebhaber – umbringt. Wie steht ihre Schwester Chrysothemis zu diesem Vorhaben?

 

(Chrysothemis hat soeben erfahren, dass zum einen ihr Bruder Orest gestorben ist und zum anderen, dass sie wegen einer gefährlichen ansteckenden Krankheit sofort in Quarantäne muss. Sie ist eigentlich auf dem Weg zu ihrer Schwester Elektra, aber unterwegs zusammengebrochen. Sie sitzt nun am Fuß einer Treppe)

(Finger an den Schläfen) Orest ist tot! Und jetzt besiedelt auch noch diese tödliche Krankheit die ganze Erde? Was soll’s, was stört mich diese ansteckende Krankheit, oh was stört mich diese Quarantäne? Ich Elende bin doch bereits hier gefangen. (legt ihr Gesicht in ihre Hände) Ich darf doch ohnehin schon nicht hinaus. Gefangen hier in diesem grauenvollen und kalten Kerker. Gefangen unter einem Dach mit der Mörderin meines Vaters, (leiser) nämlich meiner Mutter. Dann noch dieser Ägisth, dieser abscheuliche Mann. Er schläft an dem Platz, an dem Vater früher schlief ohne jegliche Reue. – Oh, und Elektra, meine eigentlich doch so geliebte Schwester: Sie ist so hasserfüllt, so irrational, so… verrückt! Wie außer sich erwartet sie mit lebhaften blutrünstigen Visionen der Rache unseren geliebten Bruder Orest. Oh Orest! Wie soll ich es ihr bloß beibringen? --- Vater ist tot, Orest ist tot! Was kümmert mich diese Krankheit? Die Krankheit macht mir keine Angst. Ich fürchte mich viel eher vor meiner Schwester, deren Hass im Einklang mit ihren grausamen und blutrünstigen Visionen ist. Ja, der Mord, den die Mutter begangen hat, war grausam, auch ich werde ihr nie verzeihen können, doch Orest ist tot, er wird nicht zurückkehren! Niemand wird Vater rächen und dies ist unabänderlich. Oh, ich muss es ihr berichten, aber wie? Sie wird ganz außer sich sein, weil sie so unfassbar erfüllt ist von ihrem Hass. Oh, wenn sie nur zu sich käme. Ich muss sie zur Vernunft bringen! Das hier ist nicht unser Platz, wir müssen fort und hiermit abschließen.

Oh ja, fort, ganz weit weg! Weg von diesem Wahnsinn! Oh ja, ich muss fliehen, letztendlich egal wohin, denn überall ist es besser als hier! (schließt die Augen, verträumt) Oh, ich will Kinder, ich will eine Familie gründen. Ich will meinen Kindern Wärme schenken können und ihre Wärme empfangen. Endlich ein Leben voller Liebe, Wärme und Normalität. --- Oh, ich will hinaus in die Welt, (wacht auf) aber nun verweigert mir nicht nur meine Familie die Freiheit, auch diese Krankheit sperrt mich ein in dieses Haus voller verrückter, hasserfüllter und mordlustiger Menschen und ich, ich werde älter (zückt einen kleinen Kosmetikspiegel und betrachtet sich) und älter und (klappt den Spiegel zu) verrotte hier in diesen Mauern.

Oh, ich ersticke hier! Nie werde ich Kinder haben, nie eine Familie, die mir Wärme spendet und der ich Wärme spenden kann. Dabei ist das doch der eigentliche Sinn unseres Lebens! Was ist dieses Leben noch wert ohne Kinder? Sie sind die Zukunft, sie sind der Einfluss, den wir in dieser Welt haben können. In unseren Nachkommen können wir noch nach unserem Tod weiterleben.

Aber ohne Kinder?

Ich lebe, erfahre grausame Schicksalsschläge und sterbe, ohne jeglichen Einfluss, ohne Nachkommen und ohne Liebe.

Es scheint so, als wäre mein ganzes Leben verflucht! Lieber fliehe ich und sterbe an der Krankheit als noch einen Tag hier zu verweilen, an diesem Ort der Trauer und des Wahnsinns!

(schüttelt den Kopf) Ich muss zu ihr und ihr die grausame Nachricht überbringen.

(Steht auf und läuft zu Elektra.)

 

Sarah Puyatier, Q1