Impuls zur Weihnachtszeit

„UNS FEHLEN DIE WORTE NICHT“, schreibt medico international auf einer Postkarte und ergänzt: „Das beste Mittel gegen Sprachlosigkeit ist Solidarität.“ Ein Appell von bleibender Aktualität seit Menschengedenken, in immer wieder andere Worte gegossen. Vor langer Zeit entstanden ist die folgende Geschichte, die Eingang gefunden hat in die Sammlung metaphorischer Geschichten, Weisheiten und Aphorismen aus aller Welt von Kambiz Poostchi, in denen er selbst die Einheit in der Vielfalt entdeckt hat.

Die beiden Brüder

Zwei Brüder wohnten einst auf dem Berg Morija. Der jüngere war verheiratet und hatte Kinder, der ältere war unverheiratet und allein. Die beiden Brüder arbeiteten zusammen, sie pflügten das Feld zusammen und streuten zusammen Samen aus. Zur Zeit der Ernte brachten sie das Getreide ein und teilten die Garben in zwei gleich große Stöße, für jeden einen Stoß Garben. Ale es Nacht geworden war, legte sich jeder der beiden Brüder bei seinen Garben nieder, um zu schlafen. Der ältere aber konnte keine Ruhe finden und sprach in seinem Herzen: „Mein Bruder hat eine Familien, ich dagegen bin allein und ohne Kinder, und doch habe ich gleich viele Garben genommen wie er. Das ist nicht recht.“ Er stand auf, nahm von seinen Garben und schichtete sie heimlich und leise zu den Garben seines Bruders. Dann legte er sich wieder hin und schlief ein. In der gleichen Nacht nun, geraume Zeit später, erwachte der Jüngere. Auch er musste an seinen Bruder denken und sprach im Herzen: „Mein Bruder ist allein und hat keine Kinder. Wer wird in seinen alten Tagen für ihn sorgen?“ Und er stand auf, nahm von seinen Garben und trug sie heimlich und leise hinüber zum Stoß des Älteren. Als es Tag wurde, erhoben sich die beiden Brüder, und wie war jeder erstaunt, dass ihre Garbenstöße die gleichen waren wie am Abend zuvor. Aber keiner sagte dem anderen ein Wort. In der zweiten Nacht wartete jeder ein Weilchen, bis er den anderen schlafend wähnte. Dann erhoben sie sich, und jeder nahm von seinen Garben, um sie zum Stoß des anderen zu tragen. Auf halbem Weg trafen sie plötzlich aufeinander, und jeder erkannte, wie gut es der andere mit ihm meinte. Da ließen sie ihre Garben fallen und umarmten einander in brüderlicher Liebe. Gott im Himmel aber schaute auf hernieder und sprach: „Heilig, heilig sei mir dieser Ort. Hier will ich unter Menschen wohnen.“

 

                                                                                                     (Aus dem Hebräischen)

 

Quellennachweis: Kambiz Poostchi (Hrsg.), Goldene Äpfel. Spiegelbilder des Lebens. Lehrreiche und humorvolle Geschichten, Weisheiten und Aphorismen aus aller Welt für Alltag, Beruf und Training, ausgewählt und zusammengestellt von Kambiz Poostchi, S. 185 f.

Verlag Via Nova, Petersberg, 6. Auflage 2016, ISBN 978-3-936486-51-4

 

Wir danken an dieser Stelle für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung durch medico international e.V. und den Verlag Via Nova.