Poetry-Slam im Literaturkurs - Text 6 : „High“

Im letzten Schuljahr hat sich der Literaturkurs der Q1-11 mit dem Thema „Poetry-Slam“ beschäftigt. Die Idee hierzu hatte Sport- und Mathematik-Referendar Tim Mössing, der zusammen mit Julia Bauer, ebenfalls Referendarin, und dem Kurslehrer Jan Hildebrandt eine entsprechende Unterrichtsreihe entwickelte.

Zunächst setzten sich die Schüler/innen mit einigen Beispielen bekannter Poetry-Slammer/innen auseinander, um so zu einer Definition zu gelangen: Poetry-Slam-Texte sind kurze selbstverfasste Texte, die bei einem Poetry-Slam vorgetragen werden. Im Anschluss wurden dann erste eigene Texte verfasst. Schließlich hatten die Kursteilnehmer/innen mehrere Wochen Zeit, um einen Text für die große Abschlusspräsentation zu entwickeln. Einige Beispiele sind hier im Laufe des Schuljahres veröffentlicht worden, nun folgt zum Ende des ersten Halbjahres der sechste und letzte Text. Die vorangegangenen Texte sind im News-Archiv zu finden. Die Illustration wurde eigens für die Schulhomepage von Rosch Mahmud gestaltet.


High


Ich erzähle euch eine Geschichte.

Die Geschichte eines kleinen Helden der großen und komplizierten Welt, in der er lebt, und der Sterne.

Wann und wo? Irgendwann und in einem Paralleluniversum.

Anlass meiner Geschichte ist eine ernstzunehmende Begebenheit, Gottes Tod. Richtig gelesen:

Gott ist tot.

Natürlich wirft das Fragen auf: Wer oder was hat ihn getötet und warum? Aber das ist weniger interessant.

Viel interessanter sind die Fragen – vier an der Zahl –, die sich unser kleiner Held anlässlich dieser Begebenheit stellt.

Vorab einige Einzelheiten:

Unser kleiner Held ist Wissenschaftler. Auf eine Frage, die er sich stellt, verzichtet er nur ungern. Er hat den Wunsch diese große und komplizierte Welt zu verstehen.

Die große und komplizierte Welt ist … groß und kompliziert. Sie besteht aus ihren Augenblicken. Jeder Augenblick ist Wirkung des Vorangegangenen und Ursache des Folgenden. Die große und komplizierte Welt ist die Summe derselben. Zudem ist sie unordentlich. Sie wird sogar immer unordentlicher, was ferner dazu führt, dass sie sich selbst zerstört. Gewiss ist sie dem Untergang geweiht.

Die Sterne schauen von oben auf unseren kleinen Helden herab. Sie belächeln ihn.


Nun hat unser kleiner Held seine vier Fragen, allein die passenden Antworten fehlen ihm. Das ist seine Katastrophe.

Also weint er. Nicht, weil er traurig ist. Er weint, weil es ihn befreit. Es befreit ihn von seiner Last, der Last der Ungewissheit.

Der großen und komplizierten Welt, der ist alles gleich. Sie dreht sich einfach weiter.

Und die Sterne ... sie langweilen sich.


Unser kleiner Held wäre aber kein Held, würde er sich nicht der Ungewissheit stellen, die sich ihm offenbart. Er ist mutig. Er hat den Mut, sich seines Verstandes zu bedienen. Daher rührt zugleich seine Heldenhaftigkeit. Doch alleine und ohne Hilfe kommt er nicht weit.

Deshalb greift er nach den Sternen. Die sind aber zu weit weg. Er kann sie nicht erreichen.

Darum schließt er seine Augen. Die Sterne scheinen gutmütig zu sein, denn sie erscheinen ihm. Sie antworten ihm.


Unser kleiner Held fragt, was er wissen könne.

Die Sterne antworten:

Wissen ist Macht. Jene Macht, die dich befähigt, Augenblicke der Zukunft vorherzusagen.

Wissen musst du sammeln. Das funktioniert folgendermaßen:

Du beobachtest deine Welt. Jedoch ist deine Welt groß. Deshalb solltest du sie im Kleinen und Geteilten beobachten und dich vom Großen und Ganzen möglichst fernhalten. Du untersuchst die Augenblicke deiner Welt. Genauer gesagt, beschränkst du dich auf zweier solcher. Jedoch ist deine Welt kompliziert, fast unbegreiflich. Deshalb musst du sie begreifbar machen, sie übersetzen, in eine dir verständliche Sprache. Die Sprache der Zahlen bietet sich hierfür an. Das ist die Empirie, die Messung.

Dann analysierst du. Du begibst dich auf eine Suche. Du suchst nach den Zusammenhängen, den Zusammenhängen im mathematischen Sinne. Hast du eine Vermutung, so ist das deine Theorie.

Nun ist es an der Zeit dieselbe zu beweisen. Das wird dir eine ewige Beschäftigung sein.



Unser kleiner Held fragt, was er glauben dürfe.

Die Sterne antworten:

Du bist endlich, du bist beschränkt. Die Erbringung von Beweisen stellt sich als ewige Tätigkeit heraus. Also kannst du niemals absolut und endgültig wissen. Du kannst nicht wissen, ob nicht doch ein weißer Rabe auftaucht. Du bist gezwungen zu glauben.

Du hast die Freiheit an alles zu glauben. Als Wissenschaftler glaubst du an die Empirie, an deine Messungen. Das ist schon mal ein Anfang. Dennoch bleibt dir die Freiheit an alles zu glauben, darum glaube an deine Freiheit.

Glaube an einen Willen, an deinen Willen. Glaube an die Freiheit desselben. Das gestattet es dir, dich so zu bewegen, wie du es möchtest. Du darfst tanzen.



Unser kleiner Held fragt, wer er sei.

Die Sterne antworten:

Du bist ein Mensch. Ein Wesen, das des aufrechten Ganges fähig ist.

Du lebst in deiner großen und komplizierten Welt. Du bist mit ihr verbunden. Über die Wege deiner Sinne, welche in deinen Gedanken münden. Auf diese Weise füllt dich deine Welt, denn du bist leer. Du solltest ihr dankbar sein, der Welt, dankbar dafür, dass sie dich füllt.

Deinen Gedanken übergeordnet ist dein Wille. Dein Wille, der hat Wünsche. Du hast die Möglichkeit, sie ihm zu erfüllen, indem du denkst – hierbei kann dir dein gesammeltes Wissen dienlich sein –, dich entsprechend bewegst und die Veränderung bewirkst, die du dir so sehr wünschst für deine Welt.



Unser kleiner Held fragt, was er tun solle.

Die Sterne antworten:

Eine jede Veränderung bedarf einer Kraft. Entscheide dich für eine, dir stehen zwei zur Auswahl: Die Liebe und ebenso gut erlaubt der Hass.

Die Welt hat die Tendenz immer unordentlicher zu werden, sich mehr und mehr zu zerstören. Sie ist dem Untergang geweiht. Dem kannst du entgegenwirken, du kannst versuchen, dem Unausweichlichen zu trotzen und zu schaffen, ein Schöpfer zu werden. Das wäre die Liebe.

Du kannst aber auch die Zerstörung beschleunigen, zum Zerstörer selbst werden. Das wäre der Hass. Wenn du nichts tust, dann überlässt du die Welt sich selbst, ihrer eigenen Vernichtung. Du siehst, die Abwesenheit der Liebe ist der Hass.

Entscheide dich.



Wie sich unser kleiner Held entscheidet, steht buchstäblich in den Sternen und ist nicht Teil meiner Geschichte.

Letztendlich wird er seine Augen wieder öffnen.

Er wird wieder weinen. Nicht, weil er traurig sein wird. Er wird weinen, weil es ihn befreien wird. Es wird ihn befreien von seiner Last. Der Last der Gewissheit.

Der Welt, ihr wird immer noch alles gleich sein. Sie wird sich immer noch drehen. Im Kreis.

Und die Sterne ... ich kann nicht so genau sagen, was mit den Sternen ist. Sie werden sich aber fortan langweilen.


Rosch